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Politische Kritik der RSO

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| Kategorien: Germany, International, Statements
2011-06-08


Über das Konsensverfahren, den “Irgendwann-Internationalismus” und die Weigerung, politische Gruppen aus dem Ausland zu charakterisieren

Die extreme Zersplitterung der trotzkistischen Linken ist schon lange Gegenstand zahlreicher Witze und immer wieder Anlass für ungläubiges Kopfschütteln. Wir von RIO bemühen uns – im Rahmen unserer Möglichkeiten – dieser Zersplitterung entgegenzuwirken, indem wir intensive Diskussionen mit anderen Gruppen führen und die Möglichkeiten für engere Zusammenarbeit ausloten. Wir wissen aber auch, dass die Zersplitterung nicht einfach durch den „guten Willen“ aller Beteiligten überwunden werden kann. In Diskussionen zeigen sich nämlich oft politische Differenzen, die die Existenz getrennter Gruppen rechtfertigen.

Einen Sonderfall stellt jedoch unsere Erfahrung mit der österreichischen „Revolutionär Sozialistischen Organisation“ (RSO) dar. Mitten in einem längeren Diskussionsprozess spaltete sie unsere gerade entstandene SchülerInnengruppe in Berlin ab und verhinderte so vorsätzlich den Zusammenschluss beider Organisationen – in einer überstürzten Aktion, ohne ein einziges politisches Dokument. Auf diese Weise entstand die Berliner Ortsgruppe der RSO. Gleichzeitig verlor sie aber auch die Hälfte ihrer AktivistInnen in der Schweiz. Dort versuchten sie, einen marxistischen Lesekreis mit sehr jungen AktivistInnen zu spalten, und zwar ohne ein einziges politisches Argument. Dass sie mit diesem Manöver in erster Linie sich selbst geschadet haben, macht es aus unserer Sicht nicht besser.

Das Resultat sind nun zwei sehr ähnlich aussehende Gruppen, die jede für sich schwächer aufgestellt sind, als sie es gemeinsam wären. Die RSO hat öffentlich behauptet, dass sie eine Zusammenarbeit mit uns wünschen und sich sogar vorstellen können, in Zukunft mit uns zu fusionieren(1). In Wirklichkeit jedoch haben sie eine Diskussionsverweigerung ausgesprochen, die sie von ursprünglich “2-3 Wochen” auf “2-3 Monate” und nun auf eine nicht festgelegte Zahl von Jahren ausgedehnt haben. Wie sie sich eine Zusammenarbeit oder gar eine Fusion ohne jegliche Diskussion vorstellen, haben sie bisher nicht erklärt.

Es wurden definitiv auch von unserer Seite Fehler gemacht, die auf die eine oder andere Art zu dieser Situation beigetragen haben. Die Tatsache, dass sich ein Teil unserer Mitglieder bewusst für eine übereilte Spaltung entschieden hat, zeigt zum Beispiel, dass wir (damals noch als die Jugendorganisation REVOLUTION) junge Mitglieder aufgenommen hatten, die kein ausreichendes Verständnis des demokratischen Zentralismus (und der dazugehörigen Diskussionskultur) hatten. Der Wiener RSO gehören allerdings auch erfahrene GenossInnen an, die dieses Manöver aktiv unterstützten. Dies widersprach natürlich dem guten und seriösen Eindruck, den wir zuvor von der RSO hatten.

Kurz vor dem Abbruch des Annäherungsprozesses gab es aus unserer Sicht nur noch sehr wenige offene Fragen, die einer Fusion im Weg standen – aber es gab sie. Heute können wir sagen, dass wir unterschätzt haben, welche politischen Differenzen zur RSO dahintersteckten. Wir brauchten auch ziemlich viel Zeit, um diese Differenzen aufzuarbeiten. Trotzdem glauben wir, dass weitere Diskussionen damals – auch wenn sie noch mehr Zeit beansprucht hätten – sinnvoller gewesen wären als die Spaltung und der Abbruch jeglicher Zusammenarbeit. Ein geduldigeres Vorgehen hätte für alle Beteiligten ein wesentlich besseres Ergebnis gezeitigt..

Da die RSO bisher jedoch jeden Versuch zur Diskussion blockiert hat, erscheint es sinnvoll, unsere Überlegungen zu den Differenzen zwischen unseren Organisation zu veröffentlichen. Bisher haben sie ihre Spaltungsaktion mit persönlichen Vorwürfen gegen einige GenossInnen von uns begründet. Wir wollen diesen Vorwürfen nicht aus dem Weg gehen – ganz im Gegenteil haben wir die GenossInnen vom ersten Tag an aufgefordert, diese Vorwürfe zu untersuchen oder untersuchen zu lassen. Da sie aber einige davon selbst wieder zurückgenommen haben, wissen wir bis heute nicht, welche Vorwürfe damals ernst gemeint waren und welche nur “taktisch” eingesetzt wurden. Nichtsdestotrotz sind wir der Meinung, dass die Existenz getrennter Gruppen in erster Linie politisch begründet werden sollte.

Natürlich ist dies auch eine Einladung an die GenossInnen, selbst Stellung zu nehmen – nicht unbedingt zu den Details der Spaltung (auch wenn wir dies ebenfalls begrüßen würden) sondern zu den konkreten politischen Positionen.

1) Konsensverfahren statt Mehrheitsprinzip?

RIO und die RSO haben sehr ähnliche Statuten, die beide auf “demokratischem Zentralismus” basieren. Das heißt, dass wir eine Entscheidung möglichst lange diskutieren, bevor darüber abgestimmt wird. Alle Mitglieder der Organisationen sollten dann die Entscheidung der Mehrheit geschlossen umsetzen, wobei Minderheiten jederzeit das Recht haben, offen für eine Änderungen der Organisationspositionen zu kämpfen(2).

In unseren Diskussionen mit der RSO hatten wir keinerlei Differenzen über dieses Prinzip. Umso erstaunter waren wir über ihre Ergänzungen in der Praxis. Als Begründung für eine Spaltung ohne ein einziges Dokument, hieß es von Mitgliedern der RSO-Leitung: “Es hatte sich abgezeichnet, dass es keine konsensuelle Lösung geben würde” und “manchmal ist Konsens notwendig.”

Wir waren deshalb erstaunt, weil RIO und die RSO gleichermaßen das sogenannte Konsensverfahren in der Studierendenbewegung ablehnten und aktiv dagegen ankämpften(3). Wir hatten noch nie von MarxistInnen gehört, die selbst dieses Prinzip verwenden, auch nicht “manchmal”. Jetzt aber nahmen sie es als Argument, um bestimmte Diskussionsprozesse “abzukürzen”.

Wir würden gern erfahren, warum die traditionelle Konzeption der marxistischen Bewegung mit diesem Ansatz der kleinbürgerlichen Linken ergänzt werden sollte. In welchen Fällen gibt es diesen Konsenszwang? Sollten diese Fälle dann nicht auch in einem Statut verankert werden? Die wichtigsten Entscheidungen der proletarischen Bewegung wurden mit einfacher Mehrheit abgestimmt: So beispielsweise die Aprilthesen der Bolschewistischen Partei, der Oktoberaufstand vor der Machteroberung der Sowjets oder die Gründung der Kommunistischen Internationale. All diese Entscheidungen wären auf der Grundlage des Konsensverfahrens nie zustande gekommen – das ist auch ein Grund, warum wir es ablehnen.

2) Informelle Gespräche

Selbst der “Manchmal-Konsens” liefert noch keine Erklärung für eine Spaltung ohne politisches Dokument. Normalerweise sollten diejenigen, die in einer revolutionären Organisation etwas kritisieren, dies auch klar formulieren und am besten schriftlich festhalten. So haben wirklich alle Mitglieder die Chance, sich über unterschiedliche Positionen zu informieren und zu strittigen Fragen zu äußern. Wir halten es hingegen für keine gute Idee, Entscheidungen mit einer Tragweite von mehreren Jahren auf einer Party zu treffen. Die Abspaltung in Berlin wurde jedoch auf diese Weise organisiert. Auf diese Art kam eine Spaltungsgruppe zusammen, deren größte Gemeinsamkeit politische Unerfahrenheit und unrealistische Erwartungen (“in einem halben Jahr werden wir 20 Leute sein!” hieß es uns gegenüber) waren.

Die einzige Begründung der RSO-GenossInnen für die Organisierung von solchen geheimen Treffen lautete, dass es “in jeder Gruppe informelle Gespräche” gäbe. Dieser Aussage können wir nicht widersprechen, jedoch glauben wir, dass diese auf ein geringes Maß beschränkt werden sollten (wenn es um politische Entscheidungen geht), um allen Mitgliedern einer Organisation das gleiche demokratische Mitspracherecht zu gewähren.

Privaten und informellen Gesprächen ein so hohes Gewicht zu geben, führt leicht dazu, dass der Einfluss eines Mitglieds von der Zugehörigkeit zu einem Freundeskreis und von persönlichen Sympathien und Abneigungen abhängt. Ein gutes Verhältnis der Mitglieder untereinander ist natürlich von Vorteil – aber es kann nicht die wichtigste Grundlage der Zusammenarbeit sein. Stattdessen müssen gemeinsame politische Perspektiven im Vordergrund stehen.

3) Internationalismus

Die RSO hat – gegenüber dem Unsrigen – ein sehr konträres Verständnis von Internationalismus und wir denken, dass sie damit ziemlich weit von jener Tradition liegt, auf die wir uns beide berufen. Als MarxistInnen versuchen wir, eine möglichst große Einheit über Landes- und Sprachgrenzen hinweg herzustellen. RIO hat Sektionen in Deutschland, der Schweiz und Tschechien. Wir haben auch einen intensiven Diskussionsprozess mit der FT begonnen, die Sektionen in Argentinien, Mexiko, Brasilien, Chile, Bolivien, Venezuela, Costa Rica und Spanien hat. Es ist noch nicht klar, ob es gelingen wird, ausreichende programmatische Übereinstimmung mit der FT zu finden, damit auch die organisatorische Einheit möglich wird. Aber wir finden es extrem wichtig, offensiv nach dieser Einheit zu suchen.

Dieser praktische Internationalismus bedeutet natürlich viel Aufwand, v.a. in Form von Übersetzungen. Aber wir denken, dass die Vorteile bezüglich der Entwicklung des marxistischen Programms diesen Aufwand rechtfertigen. Trotzki betonte, dass das revolutionäre Programm nicht allein in einem nationalen Rahmen entwickelt werden kann. Denn nur so können wir dem massiven reformistischen und zentristischen Druck in der ArbeiterInnenbewegung standhalten.

Wir denken, dass diese Position der besten Tradition unserer Strömung entspricht. Man betrachte z.B. die amerikanischen TrotzkistInnen, die 1928 aus der Kommunistischen Partei der USA ausgeschlossen wurden und ursprünglich nur drei AktivistInnen zählten. Sie konzentrierten sich dabei nicht ausschließlich auf das nationale Feld sondern waren von Anfang an Teil einer internationalen Organisation – zuerst der Internationalen Linksopposition und später der Vierten Internationale. Durch diese Orientierung konnten sie ein durchdachtes marxistisches Programm für die USA entwickeln und innerhalb von 10 Jahren eine kleine aber bedeutende ArbeiterInnenpartei, die Socialist Workers’ Party, aufbauen. Die Fokussierung auf internationale Zusammenarbeit hatte nicht etwa den Aufbau der nationalen Organisation gebremst, sondern ihm entscheidende Impulse versetzt.

Die RSO lehnt diese Tradition zugunsten einer rein deutschsprachigen Organisation ab. Sie wollen “irgendwann” zu einer internationalen Organisation kommen, aber wie und wann, wissen sie nicht. Jetzt sei es auf jeden Fall unmöglich. Doch gerade durch ihre studentische Zusammensetzung hätten sie gute Möglichkeiten, den anfallenden Übersetzungsaufwand zu bewältigen. Unserer Meinung nach wäre es fatal, die Versuche, eine internationale Organisation aufzubauen, auf später zu verschieben, weil es jetzt dringendere Aufgaben gäbe.

Die Internationale Linksopposition und die Vierte Internationale sind in den 30er Jahren unter erheblich schwierigeren Bedingungen als internationale Organisationen gegründet worden. Wir denken, dass sich die RSO-GenossInnen nur eingeschränkt auf dieses Erbe berufen können, da sie wohl zu denjenigen gehört hätten, die eine internationale Organisation zu dem Zeitpunkt als “verfrüht” abgelehnt hätten(4).

Leo Trotzki schrieb z.B. in einem Brief im Jahr 1930: “Ihre Auffassung von Internationalismus scheint mir falsch zu sein. Für Sie ist die Internationale letztlich die Summe der nationalen Sektionen oder ein Resultat der wechselseitigen Beziehungen zwischen den nationalen Sektionen. Das ist eine zumindest einseitige, nicht dialektische und darum falsche Vorstellung von der Internationale. Bestünde die kommunistische Linke in der ganzen Welt nur aus fünf Personen, so müssten diese gleichwohl gleichzeitig mit einer oder mehreren nationalen Organisationen auch eine internationale Organisation aufbauen. Die nationale Organisation als das Fundament und die internationale als ein Dach zu betrachten, ist falsch. Es handelt sich da um eine Wechselwirkung ganz anderen Typs. Marx und Engels begründeten 1847 die kommunistische Bewegung mit einem internationalen Dokument und mit der Gründung einer internationalen Organisation. Gerade so ging es bei der Gründung der Ersten Internationale . (…) In der Epoche des Imperialismus kann eine revolutionäre proletarische Strömung natürlich in einem Land früher entstehen und Gestalt annehmen als in einem anderen, aber in einem einzelnen Land kann sie nicht bestehen und sich entwickeln. Noch am Tage ihrer Gründung muss sie internationale Verbindungen suchen oder schaffen, eine internationale Plattform und eine internationale Organisation, da man nur auf diesem Wege herausfinden kann, ob eine nationale Politik richtig ist. Eine Strömung, die jahrelang in nationaler Isolation verharrt, verurteilt sich unweigerlich zur Degeneration.” (5)

Aber aufgrund ihrer Position haben sie bei ihren Diskussionen mit REVOLUTION jede Auseinandersetzung mit unserer tschechischen Sektion verweigert. Wir haben auf unserer letzten Konferenz festgehalten, dass unsere internationalen Strukturen zu schwach und unsere internationale programmatische Arbeit bisher völlig unzureichend waren – doch anstatt zu resignieren, haben wir Schritte eingeleitet, um diese Schwächen zu überwinden.

4) Lutte Ouvriere

Wir stimmen mit der RSO auch darin überein, dass der Marxismus als Wissenschaft auch kritische Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen, sich auf den Marxismus berufenden Strömungen erfordert. Für uns ist klar, dass wir praktische Zusammenarbeit und solidarischen Austausch innerhalb der revolutionären Linken brauchen – doch bei Differenzen finden wir ernsthafte und kritische Debatten genauso wichtig. Auf der RSO-Homepage findet man Kritik an der SAV aus Deutschland, dem Revolutionären Aufbau aus der Schweiz oder der Socialist Workers’ Party aus Großbritannien – sie haben sogar eine 300-seitige Kritik an der Tradition des britischen Trotzkisten Ted Grant veröffentlicht.

Doch aufgrund ihrer Internationalismuskonzeption machen sie hier gewisse Ausnahmen. Die RSO pflegt gute Beziehungen zur französischen Gruppe “Lutte Ouvriere” (LO). LO hat eine relativ große Basis in den Fabriken, aber sehr problematische Positionen. So hielten sie nach 1991 fest, dass in Russland ein degenerierter ArbeiterInnenstaat weiterhin bestünde – und das nicht nur in den chaotischen Jahren der frühen 90ern, sondern gleich 20 Jahre lang. Als sie diese eher absurde Position endlich aufgaben, behaupteten sie, dass es schlicht unmöglich sei, überhaupt eine Position zu haben, solange die eigene Organisation nicht in Russland präsent sei. Während die alte Position eine ziemlich merkwürdige Analyse darstellte, bedeutete die neue Position eine Verleugnung des wissenschaftlichen Charakters des Marxismus. Denn wenn es grundsätzlich unmöglich ist, zumindest eine grobe Analyse der sozialen Wirklichkeit des heutigen Russlands zu machen, wie wollen wir eine Aussage über die Oktoberrevolution treffen? Der Umgang mit dieser Position machte auch demokratische Defizite bei LO deutlich. Eine nicht kleine Gruppe von LO-Mitgliedern, die eine konkrete Analyse der neuen Situation nach ’91 verlangten, wurden mit bürokratischen Maßnahmen schikaniert und schließlich ausgeschlossen.

Aber die Probleme bei LO sind nicht nur theoretischer Natur. In der Praxis befürworten sie gemeinsame Wahlantritte mit der Sozialdemokratie auf lokaler Ebene und – aus unserer Sicht viel wichtiger – angesichts von Fabrikschließungen in Frankreich lehnen sie es ab, für die Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle zu kämpfen. Ihre Mitglieder sind bei vielen Kämpfen dabei, aber ihre Forderungen gehen nie über höhere Abfindungen für die Entlassenen hinaus. Doch nicht nur theoretische Erkenntnis sondern die praktische Erfahrung – zum Beispiel bei Zanon in Argentinien (6) – zeigen, dass die Enteignung von Fabriken eine konkrete Alternative zur Schließung darstellt.

LO schreibt jedoch: “Ein wirklicher Kampf gegen die Schließungen von Unternehmen würde ein hohes Bewusstseins- und Kampfniveau verlangen, denn wie sollen Bosse, die ihre Unternehmen tatsächlich schließen wollen, daran gehindert werden… anders als durch einen Kampf für die Enteignung dieser Unternehmen und für ihre Verwaltung unter Arbeiterkontrolle. Aber wer würde es wagen zu behaupten, dass das unter den gegenwärtigen Umständen auf der Tagesordnung steht?” (7)

Wer es wagen würde, das zu behaupten? Wir zum Beispiel. Die ArbeiterInnen von Zanon. Die ArbeiterInnen der Philips-Fabrik in Dreux – also auch in Frankreich (8). Und auch die RSO, in dem sie “Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle” unter anderem auf ihren Aufklebern fordert. Die GenossInnen werden wohl kaum der Meinung sein, dass eine solche Losung in Österreich aktuell, aber in Frankreich – wo es mehr Schließungen und auch mehr Kämpfe gibt – eine wahnsinnige Vorstellung wäre. Das Beispiel von Philips-Dreux zeigt, dass die Kampfbereitschaft und das Bewusstsein der ArbeiterInnen durch die permanenten Angriffe zum Teil sehr ausgeprägt sind. Aber wenn RevolutionärInnen sich bewusst weigern, in zugespitzten Arbeitskämpfen revolutionäre Forderungen einzubringen, können sie unorganisierten ArbeiterInnen kaum vorwerfen, nicht von alleine darauf zu kommen.

Nun, privat geben die RSO-GenossInnen uns mit unserer Kritik an LO mehr oder weniger recht und nennen LO “nationalborniert” und “arbeitertümlerisch”. Doch in der Öffentlichkeit versuchen sie, Kritik an LO zu unterbinden. Dazu heißt es, man könne nicht wissen, ob die Losung der “Verstaatlichung unter ArbeiterInnenkontrolle” oder irgendeine Politik in Frankreich heute richtig sei oder nicht. Nur warum nicht? Es heißt auch, dass man LO nicht kritisieren könne, weil sie “groß” ist – dabei sind andere Organisationen, die die RSO-GenossInnen kritisieren, deutlich größer. Angesichts der oben beschriebenen Positionen kann man auch kaum behaupten, dass LO besonders “links” wäre.

5) RSO und LO zum “französischen Herbst”

Zu Beginn der großen Protest- und Streikwelle Ende 2010 in Frankreich veröffentlichten die RSO-GenossInnen einen kurzen Text. Er war nicht viel anders als die Analyse der Bewegung gegen die Rentenreform, die wir in einer besonderen Broschüre zum Thema veröffentlicht haben(9):

“Die Streiks und Proteste treten jetzt in ihre heiße Phase ein, da die Auswirkungen im Produktionsbereich zunehmend spürbar werden und auch der Druck auf die Politik steigt. Wichtig ist daher, dass es einen Generalstreik gibt, der auf einer breiten Basis steht und ausgeweitet wird. Dazu wird weiterhin Druck von und Selbstorganisation an der Basis notwendig sein, damit die GewerkschaftsbürokratInnen diesen nicht einfach abdrehen können und die ganze Wut verpufft. Dazu braucht es Streik- und Organisationskomitees in den Betrieben, den Schulen und Universitäten, die die Proteste organisieren und koordinieren.” (10)

Meilenweit entfernt davon war die Analyse der LO, die es sehr offen ablehnte, für einen Generalstreik einzutreten. Wie sie im November 2010 schrieben:

“Es ist kindisch, den Gewerkschaften einen Mangel an Aufrufen in diesem Sinne [des Generalstreiks] vorzuwerfen. (…) Sie haben nichts zurückgehalten, weil es in diesem Fall nichts gab, was sie hätten zurückhalten können.” (11)

Während wir (und die RSO) die Selbstorganisierung der ArbeiterInnen in Streikkomitees forderten, um einen unbefristeten Generalstreik zu organisieren und die Rentenreform zu Fall zu bringen, lehnte die LO diese Perspektive ausdrücklich ab, weil es angeblich überhaupt keine Tendenz in diese Richtung gegeben hätte. Die “Interprofessionellen Versammlungen” (“Interpros”) und die massive Teilnahme von SchülerInnen in der Bewegung waren für LO nicht der Rede wert.

Diese Einschätzung fällt nicht vom Himmel sondern entspricht dem tiefen Pessimismus, den LO seit mindestens 25 Jahren selbst in den zugespitztesten Klassenkampfsituationen an den Tag legt. Aber im Dezember 2010 – also nach dem Ende der Bewegung – gingen die LO-GenossInnen noch deutlich weiter:

“Die revolutionären Aktivisten (…) konnten nichts Anderes tun als die besten Aktivisten einer Bewegung zu sein, die von den bürokratischen Apparaten in Gang gesetzt und geführt wurde, insofern als das was diese Apparate vorschlugen, den Erwartungen der Werktätigen entsprach. Die Aufrufe zum Generalstreik von einigen Linksradikalen waren nur leere Worte. Aber wenn man an den Fatalismus denkt, der vor einigen Monaten vorherrschte, so änderte sich doch die Situation merklich.” (12)

Also in den Augen von LO sind die Zehntausenden DemonstrantInnen, die in ihren Parolen “grève générale” forderten – dazu auch linke Parteien und Gewerkschaften, “Interpros” und auch wir (genauso wie die RSO) – nur “einige Linksradikale” mit “kindischer” Politik und “leeren Worten”. Wir würden wohl keine besonders engen, politischen Beziehungen zu Gruppen pflegen, die unsere Positionen so charakterisieren.

Während der Bewegung haben Wiener RSO-GenossInnen LO in Paris besucht und einen Bericht dazu veröffentlicht. Sie berichteten (13), dass LO groß und in vielen Betrieben verankert ist. Aber wusste man das nicht vorher? Die Frage, welche Politik LO mit ihrer Größe und ihrer Verankerung betreibt, scheint die GenossInnen nicht so richtig interessiert zu haben. Es hieß, dass die LO mehr Flugblätter verteilte als sonst. Aber ob sie mit diesen Flugblättern für den Aufbau von Streikkomitees und für den Generalstreik gekämpft haben (wie die RSO es forderte) wird nicht erwähnt. (Beides haben sie natürlich nicht gemacht.)

Diese Art von “Diplomatie” in der trotzkistischen Bewegung mag ganz “angenehm” und “unsektiererisch” klingen. Aber dadurch hat die RSO keine Möglichkeit, eine Bilanz der Protest- und Streikwelle in Frankreich zu ziehen. Wir haben diese Bewegung als “neues Niveau” der Klassenauseinandersetzungen in Europa seit dem Beginn der Weltwirtschaftskrise charakterisiert – daraus ergeben sich wichtige Lehren für den Klassenkampf in allen Ländern (14). Es ist positiv, das die RSO-GenossInnen die oben zitierte Bilanz von LO nicht gespiegelt haben. Doch jede Bilanz von ihnen müsste auch eine implizite (wenn nicht explizite) Kritik an LO beinhalten, und würde wahrscheinlich auch eine positive Bezugnahme auf die “Trotzkistische Fraktion” (FT-CI) bedeuten. Und so verzichten die RSO-GenossInnen – ganz “diplomatisch” – vollständig darauf, irgendwelche Lehren aus den sieben Wochen von Massenstreiks und Blockaden zu ziehen.

Schlussfolgerungen

Wie bereits erwähnt, war eine der Begründungen für die Spaltung seitens der RSO, dass unsere Organisationen sich in einer festgefahrenen Situation befänden, die sich durch Gespräche nicht mehr lösen ließe. Da ein Scheitern des Annäherungsprozesses unausweichlich sei, wollten sie sich und uns weitere zermürbende Diskussionen ersparen und den Prozess stattdessen „abkürzen“. Statt Diskussionen und demokratischen Mehrheitsentscheidungen sollte ein schneller Schnitt uns alle weiterbringen. Diese Herangehensweise erscheint uns als wichtigster Unterschied zwischen der RSO und uns. Wir können nur noch einmal betonen, wie schädlich wir diese Methode finden.

Bereits die Vierte Internationale schrieb über “Abkürzungen”: “Die häufigen praktischen Einwände über “Zeitverlust”, wenn man sich an demokratische Methoden hält, laufen auf kurzsichtigen Opportunismus hinaus. Die Bildung und Konsolidierung der Organisation ist eine sehr wichtige Aufgabe. Für die Erfüllung soll weder Zeit noch Mühe gespart werden. Darüber hinaus bedeutet die Parteidemokratie die einzig vorstellbare Garantie gegen prinzipienlose Konflikte und unbegründete Spaltungen, in letzter Analyse keine Steigerung, sondern eine Senkung der Kosten der Entwicklung. (15)

Unsere eigene Erfahrung hat nun unsere Ablehnung von “Abkürzungen” gestärkt. In diesem konkreten Fall hätten demokratisch-zentralistische Methoden langfristig zu einer Klärung der politischen Fragen und einer Ausbildung von revolutionären Aktivistinnen geführt – die “Abkürzung” war schneller, produzierte aber das gegenteilige Ergebnis: Zersplitterung und Rückzug von GenossInnen aus der Politik. Wir wollen der gesamten trotzkistischen Linken empfehlen, auch bzw. gerade in komplizierten Situationen an demokratischen Methoden festzuhalten (auch bei uns gab es ja in dieser Hinsicht Defizite), und mit jenen Gruppen sehr vorsichtig umzugehen, die dies nicht tun.

Die RSO sehen wir weiterhin als eine Organisation an, die uns relativ nahe steht und in der Lage sein könnte, wichtige Beiträge zum Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenorganisation zu leisten. Allerdings läuft sie Gefahr, durch versteckte Schwächen im Verständnis von innerorganisatorischer Demokratie und Internationalismus sowie durch kurzsichtiges Taktieren ihr eigenes Potenzial zu zerstören. Wegen ihrer Manöver ist nicht nur die marxistische Linke kleiner, als sie sonst wäre (langjährige GenossInnen haben sich aus der Politik zurückgezogen). Auch die RSO selbst ist kleiner, als sie sein müsste (RSO-AktivistInnen sind ausgetreten, weil sie absichtlich nicht über die Spaltungsmanöver ihrer Leitung informiert wurden, und potentielle Mitglieder haben ein sehr anderes Bild von der Organisation, als sie bis dahin gehabt hatten (16)).

Wir für unseren Teil finden es absurd, dass die GenossInnen jegliche Zusammenarbeit und Diskussion ablehnen, und das ohne jede Begründung. Nicht nur zu uns, sondern auch zur “Sozialistischen ArbeiterInnenstimme” (SAS) und zur “Trotzkistischen Fraktion” (FT-CI) hat die RSO ihre damals bestehende Kontakte abgebrochen (17). Auf uns macht es freilich keinen besonders politischen Eindruck, dass die RSO Kontakte zur weit rechts von ihnen stehenden LO aber nicht zu verschiedensten ihnen nahestehenden Gruppen pflegt.

Diese Methode, die die internationale Arbeit nicht von politischen Kriterien leiten lässt sondern davon, mit wem man sich “gut versteht”, bedeutet letztendlich, die internationale Politik aus dem Blickwinkel der nationalen zu betrachten, statt die nationale Politik als einen Ausdruck der internationalen zu sehen. Wir stimmen mit den oben zitierten Ausführungen von Trotzki in der Ablehnung dieser Methode überein. Wir haben die Genossinnen bereits vor 18 Monaten aufgefordert, die politischen Differenzen – die aus ihrer Sicht eine Spaltung und den Abbruch jeglicher Kontakte rechtfertigen – zu erläutern. Unsere Bewegung ist durch solche Manöver schwächer aufgestellt. Von daher möchten wir, dass wenigstens einige Lehren davon für die Bewegung erhalten bleiben.

von RIO DE, 22. April 2011

Fußnoten:
(1) http://www.sozialismus.net//content/view/1300/60/
(2) Siehe unseren Text zum demokratischen Zentralismus
(3) Siehe unsere Broschüre zum Bildungsstreik, Kapitel 6: “Charakter der Bildungsstreikbewegung”. Zum Vergleich siehe den Text eines RSO-Genossen aus der Zeit der Unibesetzungen in Wien: http://www.sozialismus.net//content/view/1450/136/
(4) Siehe unsere Thesen zur Vierten Internationale und besonders die These II: “War die Gründung verfrüht?”.
(5) Leon Trotsky: To the Editorial Board of Prometeo. Deutsche Übersetzung: http://www.klassenkampf.net Natürlich muss man nicht mit jeder Aussage Trotzkis übereinstimmen. Aber bei Differenzen sollten diese klar benannt werden, wenn man sich auf das Erbe Trotzkis berufen will.
(6) Siehe unsere Broschüre über die Erfahrung bei Zanon.
(7) http://www.union-communiste.org/?DE-archp-show-2009-17-1239-x-x.html
(8) Siehe ein Interview zur Erfahrung bei Philips-Dreux. Das dortige Werk wurde monatelang bestreikt und für kurze Zeit unter Kontrolle der ArbeiterInnen weitergeführt. Um die Gefahr der Schließung abzuwenden wurde hier auch die Enteignung des Unternehmers in Erwägung gezogen.
(9) Siehe unsere Broschüre über den “französischen Herbst”.
(10) http://www.sozialismus.net//content/view/1534/84/
(11) http://www.union-communiste.org/?FR-archp-show-2010-1-1346-5841-x.html (eigene Übersetzung)
(12) http://www.union-communiste.org/?DE-archp-show-2010-17-1371-x-x.html
(13) http://www.sozialismus.net//content/view/1558/1/
(14) aus der Einleitung unserer Frankreich-Broschüre.
(15) Documents of the Fourth International (New York 1973) p29. (eigene Übersetzung und Hervorhebung.)
(16) So hieß es von einem Revo-Mitglied, die Spaltungsaktion habe “dazu geführt, dass ich auf absehbare Zeit wohl kaum der RSO beitreten kann (…) weil die RSO sich in meinen Augen durch ihre (…) Unterstützung dieses Vorgehens selbst diskreditiert hat.”
(17) In beiden Fällen gab es keine politische Erklärung. Im zweiten Fall hat die RSO-Leitung ihren Mitgliedern ausdrücklich untersagt, mit der SAS zu diskutieren. Wir finden es schon albern genug, wenn trotzkistische Gruppen ihre Mitglieder von anderen trotzkistischen Gruppen fernzuhalten versuchen. Aber von einem solchen Verbot haben wir noch nie gehört.



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