Information

Archives

Statistics

  • Posts 526
  • Pages 4
  • Categories 45
  • Comments 134
  • Words in Posts 665,397
  • Words in Pages 12,901
  • Words in Comments 12,619

Newsletter (in English)





2006-09-25


Die ersten sozialistischen Jugendorganisationen gründeten sich am Ende des 19. Jahrhunderts. Während die linken Teile der Arbeiterbewegung in ihnen eine wichtige Kraft für den sozialistischen Kampf sahen, fürchteten rechte Partei- und Gewerkschaftsbürokraten die eigenständige Jugendbewegung als gefährliche Konkurrenz. Die sozialistische Jugend musste sich ihre Anerkennung erkämpfen, unterstützt vom linken Flügel. Karl Liebknecht schrieb…

Die proletarische Jugendbewegung ist ein notwendiges Glied der modernen Arbeiterbewegung. Die proletarische Jugend ist Geist und Bein der Arbeiterschaft. Nie haben die freien Jugendorganisationen ihren Vereinszweck anders aufgefasst, als der modernen Arbeiterbewegung zu dienen, für die Kampforganisationen der Arbeiter eine Vorschule zu sein. Die Jugendorganisationen mußten sich – wie jede neue Bewegung – die Anerkennung seitens der Arbeiterschaft schwer erkämpfen. Jahrelanger harter Arbeit hatte es bedurft. Immerhin: Es gelang. Am 29. September des Jahres 1906 nahm die Arbeiterschaft auf ihrer Tagung in Mannheim1 diese Sympathiekundgebung einstimmig ohne Widerspruch an:

„Das allerwärts sich vollziehende Erwachen der proletarischen Jugend zu selbstständiger organisatorischer Betätigung wird begrüßt. Die Parteigenossen werden aufgefordert, überall, wo die Vereinsgesetzte es gestatten, die Gründung und Weiterentwicklung von Jugendorganisationen zu fordern.”

In der Begründung dieser Sätze sagte ein Redner (Dr. Karl Leibknecht): „Aber auch dort, wo die Jugendorganisationen nicht politische sind, sollte die Partei erklären, dass sie ihnen sympathisch gegenübersteht. Es ist Pflicht des Parteitages, auch nach Norddeutschland den jungen Leuten zuzurufen: ‚Wir sind mit eurer Tätigkeit einverstanden!’”

Diese Ausführungen fanden den lebhaften Beifall des Parteitages. Jugend und Arbeiterschaft arbeiteten nun mit gestärkter Kraft an dem Ausbau der Jugendorganisationen. Doch: Dis aliter risum! (Im Rate der Götter wurde es anders beschlossen!)

Schon neun Wochen nach dem Parteitage in Mannheim sprachen sich die Vertreter der Vorstände der Zentralverbände auf einer am 26. und 27. November 1906 in Berlin tagenden Konferenz gegen besondere Jugendorganisationen aus.

„Die Generalkommission halte eine besondere Zentralorganisation der Jugendlichen nicht für zweckdienlich, weder in der Vertretung wirtschaftlicher Interessen noch auf dem Gebiete der Jugenderziehung, sondern eher als nachteilig. Nicht die Schaffung einer Jugendorganisation, sondern eine zweckentsprechende Organisation der Jugenderziehung müsse die Aufgabe sein, an der Partei und Gewerkschaften gleicherweise arbeiten sollten. Die Organisierung jugendlicher Arbeiter müssen sich die Gewerkschaften mehr angelegen sein lassen. Die einzelnen Gewerkschaftsvorstände und Verbandstage sollten sich eingehend mit der Frage befassen, wie die Jugendlichen zu den Gewerkschaften besser heranzuziehen und in diesen zu erhalten seien. Dann müsse der nächste Gewerkschaftskongreß sich besonders mit der Frage der jungendlichen Arbeiter und des Lehrlingswesens beschäftigen, wozu die nächste Vorstandskonferenz entsprechende Vorschläge unterbreiten könnte. Die Konferenz schloß sich diesen Ausführungen an.”

Trotz dieser Stellungnahme seitens der Gewerkschaftsführer wurde im September des nächsten Jahres (1907), als das Reichsvereinsgesetz, das die Jugendorganisationen erdrosseln sollte, in Sicht war, auf der Tagung der Arbeiterschaft Deutschlands in Essen2 beschlossen:

„Die Schaffung von Jugendorganisationen intensiver wie bisher zu betreiben … Gleichzeitig die Parteigenossen zu verlassen, in dieser Richtung aufklärend zu wirken.”

Erst das Reichsvereinsgesetz bot den Gewerkschaftsführern die willkommene Gelegenheit, mit ihrer Meinung und ihrem Plane in die breite Öffentlichkeit zu treten. In das Gesetz suchte man mehr hineinzulesen, als schon drin steht. Daß unsere Organisation von dem Gesetz unberührt bleiben, haben wir bereits seinerzeit dargelegt. Die eine Änderung, die das Gesetz in der Frage der Jugendorganisation brachte, war die: Ausdehnung der bisher norddeutschen Jugendorganisationen auf Süddeutschland. Der Diplomatie der Gewerkschaftsführer gelang es indes, die süddeutschen Jugendlichen zur Selbstauflösung ihres Mannheimer Verbandes zu bringen, eine in der Arbeiterbewegung seltene Erscheinung, die schon jetzt von den süddeutschen Jugendlichen bitter bereut wird.

Dem vom 22. bis 27. Juni in Hamburg tagenden Gewerkschaftskongreß blieb es vorbehalten, den übrigen bestehenden Jugendorganisationen das Todesurteil auszustellen.

Wie war es möglich, daß der Gewerkschaftskongreß, entgegen den Mannheimer und Essener Beschlüssen, sich gegen die Jugendorganisationen entscheiden konnte? Vergegenwärtige man sich das Zustandekommen des Beschlusses. Robert Schmidt3 wurde beauftragt, ein Referat über „Die Organisation zur Erziehung der Jugend” zu halten. Die Arbeiterschaft ahnte nicht, daß das Referat eine Hetzrede gegen die Jugendorganisationen werden sollte, um sie zu zertrümmern. Um so weniger konnte die Arbeiterschaft das annehmen, da für die die Frage der Organisation der Jugend bereits entschieden war (Mannheim, Essen).

Auf dem Kongreß selbst war niemand, der die auf die Jugendorganisationen gerichteten ungerechtfertigten Angriffe abwenden konnte. Schmidts Ausfälle richteten sich gegen die politischen Jugendorganisationen. Da diese aufgehört haben zu existieren, mußten Schmidts Ausführungen die Wirkung haben, die bestehenden Jugendorganisationen in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Von diesen wußte aber Robert Schmidt, daß sie eine durchaus unpolitische Tätigkeit entfaltet haben. Am 2. Mai äußerte er sich einem leitenden Mitglied unserer Organisation gegenüber anerkennend über die Tätigkeit des Berliner Vereins. In Hamburg schwieg sich Robert Schmidt über unsere Organisation vollständig aus – nach den Presseberichten zu urteilen. Da Schmidt nicht widerlegt wurde, glaubten die Delegierten ihm. Und als er noch erklärte, seine Resolution beruhe auf Vereinbarung, gewann er sie vollständig. Nach der Auflösung des Mannheimer Verbandes nahmen die Delegierten offenbar an, daß an jener „Vereinbarung” auch die Vertreter der Jugendorganisationen mitgewirkt haben So schien den Delegierten alles in bester Ordnung, fürsorglich vorgearbeitet – sie erhoben ihre Hände für das Todesurteil.

Ein um so schwererer Vorwurf trifft den Referenten. Er wußte, dass die bestehenden Jugendorganisationen sich gegen die Auflösung sträubten und nicht an der Vereinbarung teilgenommen haben. Schmidt mußte wissen, daß die Delegierten der Jugendorganisationsbewegung noch weniger Beachtung geschenkt haben als er. Darum mußte er sich sagen: Audiatur et altera pars! (Auch die andere Partei werde gehört!) Statt dessen empfahl der „Staatsanwalt” Schmidt, den Angeklagten zu köpfen, ohne ihm Gelegenheit zur Verteidigung zu geben. Sic volo, sic jubeo; sit pro ratione voluntas! (So will ich, so befehle ich, statt des Grundes gelte der Wille!)

Wie das Entstehen des Beschlusses und die Behandlung der Frage auf dem Kongreß zeigen, ist er nicht der Ausdruck des Willens der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter, sondern lediglich das Werk einiger Gewerkschaftsführer, die in den Jugendorganisationen lediglich ein den Gewerkschaften gefährliches Konkurrenzunternehmen erblicken, was ihre totale Unkenntnis über die Jugendorganisationen beweist. Der Beschluß widerspricht nicht allein den in Mannheim und Essen zur Frage der Jugendorganisationen gefaßten Beschlüssen – seine begründenden Ausführungen schlagen den Grundsätzen, die die Arbeiterschaft in der Frage der Jugenderziehung bisher eingenommen hat, ins Gesicht!

Die geplanten Komitees tragen den Keim des Todes in sich, vorausgesetzt, daß sie den von Robert Schmidt gezeichneten Weg betreten. Bestrebungen, die Jugend zu sammeln, um sie zu bilden, sind ja nicht neu. Immer sind sie aber nur Versuche geblieben. Gewiß sind hier und da aus diesen Bildungsstätten einzelne gebildete Arbeiter hervorgegangen. Eine größere Bedeutung haben sie aber nie erlangt. Das ist durchaus erklärlich.

Zwei Punkte sind es, die allein den Organisationsbestrebung der Jugend den Erfolg sichern: Selbständigkeit der Jugend und Pflege des Jugendschutzes. Erst die freien Jugendorganisationen, die aus der Jugend selbst entstanden sind, haben diesen Bedürfnissen der Jugend Rechnung getragen. Diese Bedürfnisse entspringen der heutigen Stellung der Jugend im Wirtschaftsleben. Der moderne Kapitalismus hat den Jugendlichen zur Selbstständigkeit erhoben. Der Jugendliche Arbeiter in der Fabrik ist den Erwachsenen gleichgestellt. Das patriarchalische Verhältnis zwischen Lehrmeister und Lehrling von ehedem ist so gut wie beseitigt. Diese wirtschaftliche Stellung der Jugend gibt dieser ein Recht auf selbständige Organisationen. Mit der Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse hat sich auch die Psyche der Jugendlichen geändert. Sie wachsen heute unter anderen Verhältnissen auf als früher. Diese und die geistigen Strömungen in den Städten machen den Jugendlichen früher reif. Er wird in die großen Kämpfe der Geister hineingezogen. Er wird gezwungen, an ihnen teilzunehmen. Lediglich dem Zwange der Verhältnisse folgend, strebt der Jugendliche heute mehr denn je nach Selbstständigkeit, Selbstbetätigung. Dieser Trieb der Jugendlichen läßt sich nicht gewaltsam unterdrücken. Wer es versuchen wollte, würde sich aber auch versündigen an der proletarischen Jugend. Gerade die Selbständigkeit ist es, die den Menschen auszeichnet. Aufgabe einer vernünftigen Erziehung muß es sein, die Jugend zur Persönlichkeit zu erziehen.

Nichts empfindet der jugendliche Arbeiter, noch mehr der Lehrling, drückender als seine heutige materielle Lage. Dieser Druck wird verstärkt durch die Unkenntnis des Jugendlichen, die er über die heutige Gesellschaftsordnung im allgemeinen besitzt. Jedenfalls sehnt sich der Jugendliche mehr nach seiner wirtschaftlichen Befreiung als der erwachsene Arbeiter. Bestrebungen nun, die den Jugendlichen an diesen seinen ureigensten Interessen, wie es seine wirtschaftlichen sind, packen, ziehen die große Masse der Jugendlichen an. Der Zweck aller Bildungsbestrebungen für die Jugend muß sein: das geistige Niveau der Masse zu heben, nicht einzelnen, besonders begabten Jünglingen ein Fortkommen zu schaffen. Nur dem Umstande, dass die freien Jugendorganisationen diesen nächstliegenden Interessen der Jugend genügend Rechnung getragen haben, ist ihr Erfolg zuzuschreiben. In Anbetracht, daß die Erfolge der Jugendorganisationen aus eigener Kraft unter dem gefährlichen Kampfe mit Dunkelmännern, Unternehmern, Polizei und Justiz errungen wurden, sind sie durchaus gut zu nennen. Die „Arbeitende Jugend” hat bereits eine Mindestauflage von 10 000 Exemplaren erreicht. Die „Junge Garde” hat wohl dieselbe starke Auflage, insgesamt also 20 000 Leser der Jugendzeitungen in Deutschland! Wann jemals haben Bildungsbestrebungen unter der Jugend diese Zahlen erreicht? Schaffe erst Legien4 eine Einrichtung, deren finanzielle Kosten und Arbeit von der Jugend allein geleistet werden und die 20 000 Jugendlichen zu umfassen vermag, und dann möge er die freien Jugendorganisationen ein verfehltes Unternehmen heißen!

Es sei an die Stimmung erinnert, die seinerzeit (Oktober 1904) die Gründung der Berliner freien Jugendorganisation unter der Jugend hervorrief. Nicht die Bildung an sich – wie oft werden in Berlin Vereine gegründet –, sondern der praktische Jugendschutz und die Selbstständigkeit des Vereins waren es, die wie ein Blitz in die Öffentlichkeit und besonders in die Jugend einschlugen. In Scharen strömte sie in diese ihre Organisation. Und sofort erkannten auch unsere Gegner den Wert der Selbstverwaltung durch die Jugend. „Das Reich” (Organ der christlich-sozialen Partei) schrieb nach vierteljährlichem Bestehen des Vereins:

„Es ist bereits von Herrn Liz. Mumm (das ist ein Leiter der ‘christlichen’ Jünglingsvereine. D.V.) auf einer der früheren Versammlungen zugegeben worden, daß hinsichtlich der Selbstständigkeit der Mitglieder in vielen Jünglingsvereinen gesündigt wird. Das ist das Gute, was wir von der neuen Bewegung lernen können…”

Durch die Pflege des Jugendschutzes wird zugleich die Grundlage einer systematischen geistigen Aufklärung der Jugend geschaffen. Ausgehend von der materiellen Lage der Jugend, läßt sich die Einrichtung der heutigen Gesellschaft in verständlicher Form den Jugendlichen erläutern und der Weg zur Befreiung der Arbeiterschaft vom Kapitalismus nachweisen. Die Jugend lernt zugleich erkennen, wie nötig die geistige Fortbildung für den Arbeiter ist, um den Befreiungskampf der Arbeiterschaft siegreich führen zu können.

Die Selbstständigkeit der Organisation sowie die Pflege des Jugendschutzes durch die Jugend selbst sind aber auch Erziehungsmittel. Erstere Aufgabe erzieht praktische, charakterfeste Funktionäre für die Arbeiterorganisationen, letztere entfachte das Rechtsbewußtsein in der Jugend. Der Jugendliche, aufgeklärt über seine Rechte, lernt diese zu verteidigen. Schon dem jungen Proletarier muß der Grundsatz eingefleischt werden, nie im Leben ein Recht ohne größte Not preiszugeben.

Der praktische Jugendschutz durch die Jugendorganisation muss natürlich in Verbindung mit den Gewerkschaften betrieben werden. Aber die Jugend muss an dieser Arbeit hervorragend teilnehmen. Daß die Jugendorganisation die Tätigkeit der Gewerkschaften ersetzt, ist völlig ausgeschlossen. Die Selbstständigkeit der Jugendorganisation ist ebenfalls nicht so aufzufassen, daß die Jugend, ganz sich selbst überlassen, dahinvegetiert. Je stärker die Organisation anschwillt, um so mehr ältere Berater sind nötig. Aber in der Jugendorganisation muß die Demokratie herrschen. Die Jugend muß sich ihre Leiter und Berater selbst wählen; diese müssen das Vertrauen der Jugend genießen. Leute, die kein Verständnis für die Psyche des Jugendlichen haben, eignen sich natürlich nicht zum Berater der Jugend.

Wir würden es bedauern, wenn die Resolution von Hamburg in die Praxis umgesetzt werden würde. Schade um die persönlichen und finanziellen Opfer dieser Arbeit. Sie wird sich gar bald als zwecklos erweisen. Jedenfalls sollte die Arbeiterschaft die bestehenden Jugendorganisationen nicht eher vernichten, bevor nicht nachweislich bessere Einrichtungen an ihre Stelle gesetzt worden sind. Man hüte sich, das mühselige, unter schweren persönlichen Opfern geschaffene Werk der Jugend achtlos zu zertrümmern und ihr dafür andere Einrichtungen, deren Wert sie nicht einzusehen vermag, aufzuzwingen. Unter keinen Umständen darf die proletarische Jugend mißmutig gestimmt werden, auf daß nicht die Feinde der Arbeiterschaft über die Jugend triumphieren! Möchte die Arbeiterschaft den berechtigten Wünschen der Jugend nach Selbständigkeit ihrer Organisationen ein Entgegenkommen zeigen. Der Jugendliche von heute ist der Erwachsene von morgen.

 

Notizen….

1. Parteitag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Mannheim vom 23. bis 29. September 1906
2. Parteitag der SPD in Essen vom 15. bis 21. September 1907
3. Robert Schmidt – Rechter SPD-Politiker
4. Carl Legien – Gewerkschaftsführer

Quelle…

Erstmals veröffentlicht: Arbeitende Jugend, Nr. 8 vom 1. August 1908
Abgeschrieben: Karl Liebknecht, Gesammelte Schriften und Reden, Band II, Dietz Verlag, 1960, S. 245-253



Leave a Reply