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2007-12-12


Schon bei dem Begriff “Demokratischer Zentralismus” denken viele an das Politbüro der KPdSU und an den Kadavergehorsam der stalinistischen Parteien. Trotz dieser Assoziation verteidigen wir von REVOLUTION den Begriff und das dahinter steckende Prinzip, weil wir darin das genaue Gegenteil zum Stalinismus sehen*.

Was ist demokratischer Zentralismus?

Im Statut von REVOLUTION Germany heißt es: “Demokratischer Zentralismus ist die Organisationsgrundlage der gesamten Arbeiterbewegung. Wenn beispielsweise eine Betriebsversammlung nach einer demokratischen Diskussion die Entscheidung fällt, in den Streik zu treten, müssen alle diese Entscheidung umsetzen. Wer das nicht macht, ist ein Streikbrecher. Erst nach der Aktion kann wieder darüber diskutiert werden.”

Demokratischer Zentralismus bedeutet, nach einer weit verbreiteten Definition, “Freiheit in der Diskussion, Einheit in der Aktion”. Also: vor einer Aktion soll es eine möglichst breite Diskussion geben – aber sobald eine Entscheidung gefallen ist, sollen alle die Aktion unterstützen.

Aber wie hat sich dieses Konzept entwickelt? Der Begriff wurde von der Kommunistischen Internationale popularisiert, aber das Konzept existierte schon lange vorher – die allgemeine Idee wird beispielsweise in den Statuten vom Bund der Kommunisten (1848) oder der Ersten Internationale (1864) dargelegt.

Eine Illusion unter Möchtegern-LeninistInnen ist, dass die Spaltung in der Russischen Sozialdemokratie zwischen Bolschewiki und Menschewiki im Jahr 1903 auf die Frage des demokratischen Zentralismus zurückzuführen sei. Aber die Iskra-Gruppe, aus der beide Fraktionen hervorgingen, unterstützte einheitlich den demokratischen Zentralismus. Dieses Konzept war auch eine Grundlage der Wiedervereinigung beider Fraktionen im Jahr 1906.

Demokratischer Zentralismus bedeutete damals, in erster Linie, die Idee einer einheitlichen Partei im gesamten russischen Reich, statt besonderer Parteien für verschiedene Nationalitäten oder Regionen. Das Prinzip “ein Staat – eine Partei” musste durchgesetzt werden, denn eine revolutionäre Organisation im zaristischen Russland hatte als Gegner einen zentralisierten Staatsapparat.

Aber auch die Bolschewiki erkannten die Notwendigkeit einer gewissen Autonomie für lokale Parteiorganisationen oder sprachliche und nationale Gliederungen innerhalb der Partei, und wollten ausdrücklich kein Zentralkomitee, das sich wegen Kleinigkeiten in lokalen Organisationen einmischte (1).

Zwischen Menschewiki und Bolschewiki gab es große Differenzen, vor allem über den Charakter der kommenden russischen Revolution und die Art von Partei, die sich aus dieser Charakterisierung ergab. Aber das zeigt, dass demokratischer Zentralismus sehr unterschiedlich aufgefasst werden kann.

Was ist demokratischer Zentralismus nicht?

Wenn wir auf die englischsprachige Wikipedia schauen, finden wir im Artikel über demokratischen Zentralismus das folgende Zitat: “Wenn alle Mitglieder einer Partei die Parteilinie gegenüber der Öffentlichkeit vertreten, wird es viel schwieriger für staatliche Agenten sein, einen falschen Konflikt von außerhalb zu schüren” (2). Wer hat das nun gesagt? Lenin? Trotzki? Nein, die – selbst für maoistische Verhältnisse – wahnsinnige “MIM” (3).

Dieser “Monolithismus”, d.h. die Vorstellung, dass eine kommunistische Partei nur mit einer Stimme zu sprechen hat, entstand nicht 1903, sondern 1925, mit der “Bolschewisierung” der Kommunistischen Internationale unter ihrem Präsidenten Sinowjew. Die österreichische Sinowjewistin Ruth Fischer brachte dieses Konzept gut zum Ausdruck: “Dieser Weltkongress soll nicht zulassen, dass die Internationale zu einem Sammelbecken aller möglichen Strömungen wird” (4).

So wurde die Stalinisierung der Komintern eingeleitet: Früher gab es unterschiedliche Strömungen, die auf den Weltkongressen – vor den Augen des internationalen Proletariats – debattierten, um die Strategie der Weltpartei auszuarbeiten. Aber nach der “Bolschewisierung” gab es nur noch die unfehlbare Linie der Führung.

Dieser “bürokratische Zentralismus” wurde von den StalinistInnen in die Arbeiterbewegung eingeführt. Diese Tradition wurde von den K-Gruppen (den maoistischen Sekten der 70er) neu augegriffen und unter ihrem Einfluss auch von verschiedenen Zweigen des Trotzkismus übernommen. Typisch für viele trotzkistische Strömungen heutzutage ist eine Vorstellung von “Demozent”, wonach jedes Mitglied ausschliesslich die offiziellen Positionen der Gruppe zu vertreten hat. Lautet die klassische Definition von demokratischem Zentralismus: “Freiheit in der Diskussion, Einheit in der Aktion”; haben wir es hier mit der Ergänzung: “Einheit in der Aktion – und im Reden” zu tun.

Die verheerenden Folgen dieser Methode liegen auf der Hand: eine geschlossene “Linie” kann vielleicht helfen, bestimmte Positionen fliessbandartig in die Arbeiterklasse zu transportieren. Aber es behindert die Entwicklung eben dieser Positionen in der Auseinandersetzung mit bzw. in der Arbeiterbewegung.

Dahinter steckt die arrogante Haltung, die Arbeiterklasse könnte die Debatten innerhalb einer revolutionären Organisation sowieso nicht verstehen und müsste mit fertigen Formeln beliefert werden. Lenin, im Gegenteil, forderte “Licht, Licht und mehr Licht!” über die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der revolutionären Partei, auch wenn sie in der Illegalität arbeiten musste.

Um den wissenschaftlichen Anspruch des Marxismus gerecht zu werden, muss er sich auf eine wissenschaftliche Methode stützen, d.h. eine kritische Überprüfung der Beweise und der Ergebnisse durch andere WissenschaftlerInnen ermöglichen. Schade um die Mühen des Physik-Lehrers, der seine SchülerInnen die Formel “e=mc²” auswendig lernen lässt, ohne jemals zu erklären was “e”, “m” oder “c” bedeutet. Schade um die Mühen des Marxisten, der der Arbeiterklasse erklären möchte, dass eine kapitalistische Krise bevorsteht, ohne die politische Debatte, die ihm zu diesem Ergebnis geführt hat, offen zu legen!

Auch Engels polemisierte gegen die Vorstellung des Anarchisten Bakunin, dass eine revolutionäre Organisation auf der “Einheit der Gedanken und des Handelns” basieren sollte: “Einheit der Gedanken und des Handelns heißt weiter nichts als Orthodoxie und blinder Gehorsam. Kadavergehorsam. Wir befinden uns mitten in der Gesellschaft Jesu.” (5)

Wie sieht demokratischer Zentralismus aus?

Demokratischer Zentralismus muss vor allem als ein lebendiger Prozess verstanden werden. Ein “Demozent”, in dem sich eine allmächtige Parteiführung regelmässig auf Kongressen akklamieren lässt und sonst für die Parteimitglieder unkontrollierbar ist, ist eine Erfindung der StalinistInnen. Echter demokratischer Zentralismus erfordert einen ständigen Austauschprozess in der gesamten Organisation.

In jeder Organisation oder Bewegung wird es unterschiedliche Ansichten und Perspektiven geben. Zuerst muss versucht werden, die Positionen zu synthetisieren, d.h. durch Debatte zusammenzuführen. Gelingt das nicht (wegen Zeitmangel, oder weil die Positionen in direktem Widerspruch zueinander stehen), müssen Entscheidungen per Mehrheitsabstimmung getroffen werden. Eine Kampforganisation kann nicht jede Entscheidung beliebig lange aussetzen, bis alle Differenzen vollständig ausgeräumt sind – nicht nur, um im Klassenkampf zu intervenieren, sondern auch, um die Mehrheitspositionen in der Praxis auszutesten.

“Einheit der Aktion” bedeutet ein geschlossenes Handeln auf Demonstrationen, beim Verteilen von Flyern, beim Kleben von Plakaten, bei öffentlichen Reden usw. Aber gilt das gleiche für Propaganda, d.h. in der Presse und auf den Veranstaltungen der Organisation? Lenin erklärte dazu:

“Das Prinzip des demokratischen Zentralismus und der Autonomie für lokale Organisationen bedeutet universelle und volle Freiheit der Kritik, so lange diese nicht die Einheit einer bestimmten Aktion stört: es schliesst jede Kritik aus, die die Einheit einer Aktion, die von der Partei beschlossen wurde, stört … Kritik im Rahmen der Prinzipien des Parteiprogramms muss ziemlich frei sein … nicht nur auf Parteitreffen sondern auch auf öffentlichen Veranstaltungen” (6).

Darüber hinaus muss es für eine Minderheit in einer Organisation möglich sein, die Mehrheit zu werden. Das ist aber von vorne herein ausgeschlossen, wenn es einer solchen Minderheit verboten wird, ihre Positionen in der Öffentlichkeit bekannt zu machen, denn in diesem Fall würden nur Leute der Gruppe beitreten, die mit den Gruppen(mehrheits)-Positionen übereinstimmen.

Eine revolutionäre Organisation, auch eine winzige, macht aber nicht nur Propaganda. Sie muss in die tagtäglichen Kämpfe der Klasse eingreifen, um sie voranzutreiben und mit einer revolutionären Perspektive zu verbinden. Dafür bedarf es einer Struktur – einer Leitung –, die von Minute zu Minute Entscheidungen treffen kann. Die Mitglieder sollen diesen Entscheidungen Folge leisten. Aber eine Leitung, der gefolgt werden soll, muss zuvor von den Mitgliedern gewählt und jederzeit abwählbar sein; sie muss so breit wie möglich sein, so offen wie es die Sicherheitsbedingungen zulassen, so überprüfbar wie die Mitglieder es fordern. Denn eine Leitung, die mehr Autorität zu gebrauchen versucht, als sie tatsächlich verdient hat, kann schnell die Organisation zerstören. Wie Leo Trotzki erklärte:

“Eiserne, stählerne Disziplin ist absolut notwendig, aber wenn der Apparat einer jungen Partei solch eiserne Disziplin am ersten Tag zu verlangen beginnt, kann er die Partei verlieren. Es ist nötig, Vertrauen in die Partei allgemein zu bilden, weil die Leitung nur ein Ausdruck der Partei ist…” (7).

Einige Schlussfolgerungen

Demokratie und Zentralismus sind zwei Seiten einer Medaille: Ein zentralistisches Modell ist nur umsetzbar durch ein hohes Maß an politischer Einheit, die wiederum nur durch demokratische Entscheidungsfindung zu erlangen ist.

Unterschiedliche Situationen erfordern ein unterschiedliches Verhältnis zwischen Demokratie und Zentralismus. Auf einer Konferenz herrscht reine Demokratie; Auf einer Demonstration ist strenger Zentralismus die Regel. Aber selbst eine Konferenz wird zentralistisch, wenn die Entscheidungen getroffen und ausgeführt werden; Selbst eine Demonstration wird demokratisch, wenn sie hinterher bewertet und die nächste Demonstration geplant wird.

Dieses flexible Verhältnis lässt sich auch auf historische Perioden übertragen: eine revolutionäre Organisation, die unter einem faschistischen Regime arbeitet, muss fast im militärischen Sinne zentralistisch sein. Aber in einer Periode der bürgerlichen Demokratie kann ein hohes Mass an Demokratie ermöglicht werden. Demokratischer Zentralismus ist eben kein System von ewigen Regeln, sondern eine allgemeine Methode, die der Situation der Organisation und der Gesellschaft insgesamt angepasst werden muss.

Es gibt besondere Probleme mit demokratischem Zentralismus in Jugendorganisationen – Mitglieder ohne allzuviel politische Erfahrung, ein weit auseinandergehendes politisches Niveau in der Mitgliedschaft usw. – aber gerade diese Probleme können durch Freiheit in der Diskussion und Einheit in der Aktion behoben werden.

Wir von REVOLUTION haben für diese Situation ein einfaches Modell etabliert: die Mitglieder müssen nicht unbedingt an allen Aktionen der Gruppe teilnehmen, aber sie verpflichten sich, keine Aktionen zu stören, die von der Mehrheit der Gruppe beschlossen wurden. Wichtiger ist, dass Mitglieder an allen politischen und strategischen Diskussionen teilnehmen, denn demokratischer Zentralismus ist in erster Linie ein gemeinsames Verständnis der Aufgaben für RevolutionärInnen.

Deshalb bleibt demokratischer Zentralismus die einzige Organisationsform für KommunistInnen, trotz der Versuche der StalinistInnen und mancher TrotzkistInnen, dieses Konzept durch den Dreck zu ziehen.

REVOLUTION Internationale Koordinierung, 20.12.2007

.

Notizen
* Dieser Artikel wurde im Dezember 2006 für die Diskussion innerhalb von REVOLUTION verfasst, kurz nach dem Bruch mit unserer ehemaligen Mutterorganisation – der LFI –, die uns unter anderem vorwarf, demokratischen Zentralismus abzulehnen. In Wirklichkeit unterstützen wir demokratischen Zentralismus, aber lehnen ihre bürokratische Karikatur dessen entschieden ab. Der Artikel wurde ein Jahr später in etwas überarbeiteter Form von der internationalen Koordinierung von Revo veröffentlicht.
(1) Lenin schrieb gegenüber dem jüdischen Bund: “die Regeln, die im Jahr 1898 beschlossen wurden, geben der jüdischen Arbeiterbewegung alles, was sie braucht: Propaganda und Agitation auf Jiddisch, ihre eigene Literatur und Kongresse, das Recht, besondere Forderungen zu erheben, um ein ein einziges allgemeines sozialdemokratischen Programm zu ergänzen und den lokalen Bedürfnissen und Anforderungen, die sich aus den Merkmalen des jüdischen Lebens ergeben, gerecht zu werden.” Aus: Lenin: Does the Jewish Proletariat Need an “Independent Political Party”?. http://www.marxists.org/archive/lenin/works/1903/feb/15.htm
(2) http://en.wikipedia.org/wiki/Democratic_centralism
(3) “If all members of a party uphold the party line to the general public it will be much more difficult for agents of the state to create false conflict from the outside.” Aus: Maoist Internationalist Movement: Democratic Centralism. MIM Notes 51. April 1991. http://www.etext.org/Politics/MIM/wim/democent.html
(4) “This world congress should not allow the International to be transformed into an agglomeration of all sorts of trends.” Zitiert in: Isaac Deutscher: The Prophet Unarmed. Trotsky 1921-1929. Oxford 1987. S. 146-147.
(5) K. Marx, F. Engels: Ein Komplott gegen die IAA. 1873. MEW 18. S. 346. (“Die Gesellschaft Jesu” ist auch eine Bezeichnung für den Mönchsorden der Jesuiten.)
(6) “The principle of democratic centralism and autonomy for local organisations implies universal and full freedom to criticise so long as this does not disturb the unity of a definite action: it rules out all criticism which disrupts or makes difficult the unity of an action decided on by the party … criticism within the limits of the principles of the party programme must be quite free … not only at a party meetings but also at public meetings.” Zitiert in: Paul Le Blanc: Lenin and the Revolutionary Party. New Jersey 1990. P. 128.
(7) L.D.Trotsky. Toward a Revolutionary Youth Organisation”. Writings. 1938-9. New York 1974. P.121-2.



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